Kassandra oder Seher/in innerhalb einer dysfunktionalen Familie zu sein, ist für ein Kind ein äußerst herausfordernder und denkbar undankbarer „Job“.
Narzisstische Eltern zeichnen sich durch extreme emotionale Unreife aus und die Verweigerung für sich und die Familie echte Verantwortung zu übernehmen. Daher werden die eigenen Kinder häufig parentifiziert, d.h. es werden ihnen emotionale oder auch praktische Aufgaben zugeschoben, die eigentlich die Elternrolle beinhaltet.
Viele solcher Kinder werden daher innerhalb kürzester Zeit zu reiferen und vernünftigeren Menschen als ihre Eltern – natürlich zu einem hohen Preis, nämlich dem Verlust einer echten Kindheit und der Möglichkeit zu innerer Stabilität zu finden. Diese ist für ein Kind nur über einen gesunden und natürlichen Reifungsprozess, mit emotionaler Unterstützung durch verantwortungsvolle Eltern zu erreichen.
Einige dieser „erwachsenen“ Kinder entwickeln darüber hinaus besondere Fähigkeiten. Durch ihre Verantwortungsübernahme in einem toxischen System, werden sie zur Kassandra der Familie, d.h. sie können die Wahrheit über ihre Familie oder über bestimmte ungesunde Zusammenhänge erkennen und negative Konsequenzen vorhersehen.
Diese Rolle ist nicht nur deshalb eine Bürde für ein Kind, weil ihm damit seine kindliche Unbeschwertheit und Freude am Leben geraubt werden, sondern auch weil sich diese Kinder oftmals bis zur Erschöpfung abrackern ihre Eltern zu warnen, aufzuwecken oder zu erziehen – falls sie sich dazu entscheiden auszusprechen, was sie sehen. Sie geben ihr Bestes, um die Familie in gesündere Bahnen zu lenken und die drohende, über alle hereinbrechende Katastrophe abzuwenden. Natürlich ohne jeglichen Erfolg.
Dass ihr Kampf für das Wohl der Familie absolut hoffnungslos ist und ihre Warnungen ungehört bleiben werden, wissen diese Kinder nicht. Sie verstehen nicht, dass der Narzissmus ihrer Familienmitglieder gerade die unverrückbare Weigerung beinhaltet als Persönlichkeiten zu wachsen und sich zu entwickeln.
Manche narzisstischen Eltern werden ihre seherischen Kinder vielleicht sogar anhören, aber dann doch alles weiterführen wie bisher. Manche Narzissten lehnen diese Kinder aber auch offen ab, weil sie die Wahrheit über sich und das kranke Familiensystem nicht hören möchten.
In jedem Fall ist diese Rolle im Familiensystem extrem einsam und eine monumentale Überforderung für ein Kind. Ich glaube, dass viele dieser seherischen Kinder hochsensible Menschen* sind. Durch ihre extreme Sensitivität und Weitsicht können sie dann auch als Erwachsene in anderen toxischen Systemen (Arbeitsplatz oder auch Gesamtgesellschaft) schädliche Zusammenhänge wahrnehmen und gefährliche Entwicklungen vorhersehen. Meist wird sich dann das Drama der Kindheit wiederholen: niemand wird sie anhören.
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Hinweis: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders / DSM) existiert als klinische Diagnose, wird aber selten genutzt. Narzissten tauchen im therapeutischen / klinischen Kontext kaum auf, weil sie sich selbst nicht als problematisch betrachten. Es handelt sich hier ausdrücklich nicht um die psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern um Narzissmus als Persönlichkeitsstil.
Foto: Pixaby