Nähe, die trennt – das Paradox toxischer Beziehungen

Wenn du es in deinem Leben mit toxischen Beziehungen oder einem dysfunktionalen Familiensystem zu tun hattest und einige Beziehungen beendet hast, hast du vielleicht bemerkt, dass du die Menschen, mit denen du einmal sehr eng verbunden warst, nicht wirklich vermisst.

Wenn du das mit gesunden Beziehungen vergleichst, falls du solche kennst, und du hast auch dort einen Menschen „verloren“, vielleicht sogar durch seinen Tod, dann merkst du, dass du diesen Menschen vermisst. Vielleicht warst du dabei noch nicht einmal „so eng“ mit ihm und trotzdem fehlt er dir. Dann kannst du auch genau sagen, was dir an dieser Person fehlt.

Irgendwann habe ich einmal den Satz gehört: „So nah und doch so fern“ und festgestellt, dass er die toxische Beziehung nicht besser beschreiben könnte. Toxische Beziehungen beinhalten ein Paradox. Durch die verstrickende Nähe, in der nicht klar ist, wer wer ist und wer wofür verantwortlich ist, machen sie unendlich einsam.

Erwachsene Menschen, die in dysfunktionalen Familiensystemen aufgewachsen sind, haben daher häufig ein Leben lang Schwierigkeiten mit Nähe in Beziehungen und fühlen sich unter Umständen ein Leben lang getrennt und isoliert von anderen Menschen. Das liegt daran, dass sie ein toxisches Muster des Beziehungserlebens erlernt haben und es unbewusst immer wieder „anwenden“.

Nähe und Verbundenheit können nur entstehen, wenn zwei Menschen sich unterscheiden. Um echte Intimität erfahren zu können, müssen Menschen ein Selbst in die Beziehung bringen, das sich vom anderen Menschen „distanziert“. Nähe entsteht durch Distanz. Das ist kontraintuitiv, aber es ist so.  

Die Lösung für Beziehungsprobleme und das Gefühl von anderen Menschen getrennt oder isoliert zu sein ist Selbstdifferenzierung.

Wenn du dir Nähe und Intimität wünschst, musst du lernen dich zu unterscheiden.

In toxischen Familiensystemen ist genau das das streng verboten. Kindern narzisstischer Eltern ist es nicht erlaubt ein abgegrenztes Selbst zu entwickeln. Dadurch werden sie zu Isolation und Getrenntsein von anderen Menschen verdammt. Sie lernen hingegen die Wünsche und Erwartungen der toxischen Eltern zu erfüllen und Verantwortung für deren Wohlbefinden zu übernehmen. Sie tragen die Schuld und Scham dieser Eltern an deren Stelle und opfern ihre Freiheit und Selbstbestimmung dem toxischen Familiensystem.

Das gleiche Muster geschieht im späteren Leben nicht bewusst. Es ist ein früh erlernter Reflex, den es bewusst zu machen und zu überwinden gilt. Jedes Mal, wenn du versuchst, etwas für einen anderen Menschen zu sein, kannst du diesem Menschen nicht mehr nahe sein. Du existierst dann nicht mehr und gerätst in schmerzhafte Trennung und Isolation. Du bist dann unendlich einsam.

In toxischen Beziehungen wird eine falsche Nähe hergestellt, in der die Beziehungspartner z.B. über sehr intime Dinge sprechen – das ist auch ein typischer Rollenmissbrauch toxischer Eltern – und man löst sich durch Verstrickung und toxische Verschmelzung auf. Diese „Übernähe“ verhindert aber gerade Liebe, Intimität und Verbundenheit.

Die Lösung gegen Isolation und Einsamkeit ist also kontraintuitiv, aber einfach: Um Nähe zu erleben, brauchen wir Distanz bzw. ein differenziertes Selbst. Wenn du das nicht kennst, musst du sehr bewusst in Beziehungen gehen und sehr achtsam darauf achten bei dir selbst zu bleiben. Dann stellt sich auf einmal Nähe ein.

Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier ausdrücklich nicht auf eine psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil.

Veröffentlicht in:

Heilung, Narzissmus, Psychologie

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

In toxischen Beziehungen wandelst du wie im Nebel. Ich unterstütze dich bei der Nebelklärung.

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