In narzisstischen Beziehungen löschst du dich selbst ganz allmählich aus, bis du irgendwann nicht mehr vorhanden bist. Der Prozess der Selbstauslöschung ist schleichend und gefährlich. Extrem gefährlich, weil du deine Selbstauslöschung nicht einmal spürst. Du wirst in einer toxischen Beziehung immer durchsichtiger, immer unkenntlicher, immer schwächer, immer weniger du selbst bis du eines Tages ganz verschwindest.
Dich nach einer toxischen Beziehung wieder zurückzuholen ist Schwerstarbeit. Manche Menschen erholen sich nie vollständig von ihrem Selbstverlust. Unter Umständen werden dir Jahre deines Lebens geraubt. Denn wenn du in einer toxischen Beziehung überlebst, bist du in deinem eigenen Leben, mit deinem authentischen Selbst nicht mehr vorhanden. Eine Fremde lebt dein Leben anstelle von dir selbst.
Deine Selbstauflösung beginnt mit kleinen, scheinbar unwichtigen Dingen. Dein narzisstischer Partner sagt dir, was ihm an dir gefällt (z.B. wie du dein Haar trägst) und du fängst an dein Haar häufig oder immer so zu tragen, wie es deinem narzisstischen Partner gefällt. Du fragst dich nicht, ob es dir selbst auch gefällt. Dann passt du vielleicht deine Kleidung an, ohne darüber nachzudenken, ob das, was du trägst auch wirklich dir entspricht. Das Gleiche passiert mit deinen Einstellungen, Ansichten und deinem Blick auf die Welt. Du verlierst mehr und mehr deine eigene Perspektive und traust dir selbst nicht mehr.
Damit geht auch dein realistischer Blick auf dich selbst verloren. Du siehst dich zunehmend durch die Brille deines narzisstischen Partners. Du erkennst deine Talente, Fähigkeiten und positiven Eigenschaften nicht mehr. Dadurch wirst du umso abhängiger von den wenigen positiven Rückmeldungen, die dir wie seltene Brotkrumen für eine Verhungernde zugeworfen werden.
Irgendwann verfolgst du nicht einmal mehr, was dich glücklich macht, weil du die Freude daran verloren hast. Du bist dann angepasst an die toxische Dynamik deiner Beziehung und machst es dem fordernden, dominierenden, abwertenden, beschämenden, demütigenden und jähzornigen Partner recht wo du nur kannst. Du tust es der Harmonie willen, für deine eigene Sicherheit, um deinen Partner glücklich zu machen und weil du hoffst dadurch vielleicht doch irgendwann Liebe zu erfahren. Durch den ständigen Wechsel zwischen „normalen“ Augenblicken und Missbrauch steckst du im toxischen Teufelskreis*.
Dir ist nicht bewusst, was du dir selbst damit antust.
Der Weg zurück zu dir selbst ist schmerzhaft. Du musst verlorene Träume, deine Freude und einen klaren Blick auf dich und wer du in Wirklichkeit bist wie weggeworfene Scherben einsammeln und diese zu einem neuen Selbst zusammensetzen, das tiefe Narben davongetragen hat. Schritt für Schritt führst du dich unsicher, dann zunehmend sicherer in die innere Sicherheit über das, was du bist und was dich ausmacht.
Foto: Pixaby (Tracey)
*Traumabindung entsteht durch „intermittierende Verstärkung“, eine Form der psychologischen Konditionierung. Wie beim Glücksspiel wissen Überlebende in toxischen Beziehungen nie, wann positives Verhalten des narzisstischen Partners / der narzisstischen Partnerin erfolgt. Der ständige Wechsel im Verhalten des narzisstischen Partners führt zu unterschiedlichen inneren und äußeren Prozessen, die die toxische Bindung aufrecht erhalten. Mehr dazu in meinem Online-Training „Narzissmus Nebelklärung“.
Hinweis: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders / DSM) existiert als klinische Diagnose, wird aber selten genutzt. Narzissten tauchen im therapeutischen / klinischen Kontext kaum auf, weil sie sich selbst nicht als problematisch betrachten. Es handelt sich hier ausdrücklich nicht um die psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern um Narzissmus als Persönlichkeitsstil.
