„Ich habe mein Leben rückwärts verstanden“ hat eine der Befragten zu meiner Umfrage über Narzissmus geschrieben. Dieser Satz könnte nicht besser zum Ausdruck bringen, wie es unzähligen Überlebenden toxischer Beziehungen geht.
Alle wandeln im Nebel und sehen nicht, was mit ihnen geschieht.
Sie erkennen nicht, dass sie bereits in der Kindheit narzisstischen Missbrauch erfahren haben. Sie sehen auch nicht, wenn sie sich später in einer toxischen Beziehung befinden. Es begleitet sie einfach nur Unwohlsein, toxische Scham und ein durch den narzisstischen Missbrauch zersetzter Selbstwert. Aber auch das sehen und spüren sie nicht, weil sie angefangen haben sich mit ihrem falschen Selbst – dem Selbst, das durchhält, aushält, alles im Griff hat und nicht mehr vom Leben verlangt (kurz: das Selbst, das im Nebel wandelt) – zu verwechseln. Sie ahnen nicht, dass sich ihr Leben ganz anders anfühlen könnte.
Wenn sie Glück haben, kommt irgendwann das Erwachen.
Das Erwachen aus diesem Albtraum kann unterschiedlich ausgelöst werden. Häufig dadurch, dass der narzisstische Partner / die narzisstische Partnerin kein Interesse mehr an der Beziehung hat und den anderen Menschen einfach „wegwirft“. Manchmal auch, wenn ihnen ein neuer Mensch begegnet, der sie endlich sieht, hört und versteht (das, was mit Narzissten / Narzisstinnen unmöglich ist). Daraufhin stoßen die Überlebenden dann auch auf Content zum Thema oder ein Freund lässt in einem Gespräch den Begriff „Narzissmus“ fallen. Was danach folgt, ist ein heilsamer Schock, denn plötzlich passen alle Puzzleteile des eigenen Lebens ganz leicht ineinander.
Das eigene Leben wird rückwärts verstanden.
Alles, was bis dahin nebulös und verschwommen aussah und dazu geführt hat, dass sich der überlebende Mensch nie wirklich in seinem authentischen Selbst entfalten konnte, liegt jetzt glasklar vor Augen. Mit der Nebelklärung kommt auch die befreiende Einsicht: „Mit mir war nie etwas falsch“.
Toxische Schuld und Scham können sich auflösen.
Gleichzeitig setzt ein intensiver Trauerprozess ein, der Überlebende, wenn sie sich dieser transformativen Herausforderung stellen, in die Knie zwingt. Das ist für die innere Heilung und Weiterentwicklung absolut notwendig. Überlebende müssen noch einmal in die Dunkelheit hinabsteigen und das Ausmaß an Verrat, Missbrauch, Leere und Bindungslosigkeit, das sie erlebt haben, verstehen. Sie müssen nicht weniger betrauern als eine zerstörte Kindheit, ein verpasstes Leben, ein verlorenes Selbst und damit nicht selten Jahrzehnte ohne Liebe, Zärtlichkeit, Mitgefühl und Verbundenheit.
Wenn diese herausfordernde Konfrontation mit dem eigenen Schmerz wieder und wieder mutig aufgenommen wird, steht das verlorenen gegangene Selbst allmählich auf, wie ein Phönix aus der Asche. Es schält sich tapfer hervor, mit Hilfe grenzenloser Wut und bodenloser Verzweiflung. Ein neues Leben entsteht.
Hinweis: Die Bezeichnung Narzisst / Narzisstin ist in Fachkreisen zum Teil umstritten. Es handelt sich hier ausdrücklich nicht um eine psychiatrische Diagnose bzw. eine Persönlichkeitsstörung. Was hier als Narzissmus bezeichnet wird ist ein Persönlichkeitsstil, der in Beziehungen großen Schaden anrichtet. Narzisstische Menschen zeichnen sich aus durch: Mangel an Empathie, Gefühl von Grandiosität, Berechtigungsdenken, Egozentrik, Unaufrichtigkeit und manipulatives Verhalten.