Ein viertel Leben lang

Ich hätte mir gewünscht, dass Timmy ein viertel Leben lang bei uns bleiben würde. So, wie das für einen gesunden Kater möglich ist. Timmy blieb nur zehn Monate. Er wurde in einer Nacht im April 2015 von einem Auto überfahren, etwa drei Wochen vor seinem ersten Geburtstag.

Ich habe von Timmy mehr gelernt, als von den meisten Menschen, denen ich begegnet bin. Als wäre er mindestens ein viertel Leben lang bei uns geblieben. Ich habe verstanden, dass sein Tod eigentlich nicht schlimm ist.

Nicht für ihn. Nur für uns.

Nachdem er am Abend nicht nach Hause gekommen war, hörte ich am nächsten Morgen, kurz nach dem Aufstehen, wie immer sein zartes Gurren. Ja, Timmy gurrte jeden Morgen zur Begrüßung. Wie eine kleine Taube. Das kurze Gurren, dann das Reiben seines getigerten Köpfchens gegen meine, zu ihm ausgestreckte Hand. Oder ich sollte kurz seinen warmen Bauch graulen. Das Begrüßungsritual wurde noch von großzügigem Schnurren untermalt. Dann aber genug der Liebesbekundungen, her mit dem Futter, Terrassentür auf und ab ins Freie…

An diesem Morgen, an dem ich wie immer das vertraute Gurren zu hören glaubte, war Timmy nirgends zu finden. Nicht an seinem Lieblingsschlafplatz (das Waschbecken im Bad), auch nicht im Wohnzimmer (auf der Couch oder auf dem Teppich). Ich machte mir keine Sorgen, machte mich aber auf die Suche im benachbarten Stadtpark und rief dort nach ihm. Manchmal kam er angehoppelt, wenn man seinen Namen rief, wie ein kleiner, verrückt gewordener Hase. Oft kam er auch nicht, obwohl er mit Sicherheit unser Rufen gehört hatte. An diesem Morgen war er bereits tot, als ich

Tiiiiiiimmmyyyy

in die Büsche schickte. Ich rief nicht allzu laut, es war gerade mal halb sieben. Als er nicht kam, zog ich die klare und frische Morgenluft in meine Lungen und machte mich auf den Weg zurück ins Haus. Vielleicht habe ich mir sein letztes Gurren eingebildet, vielleicht hat mich das kleine Kerlchen aber auch ein allerletztes Mal begrüßt und mir gesagt:

Mach’s gut, sei nicht traurig, wir hatten eine schöne Zeit. Warum festhalten? Alles ist gut.

Von Timmy habe ich gelernt, dass nur der Augenblick zählt. Alles andere hat keine größere Bedeutung. Stundenlang hätte ich ihm zuschauen können, von meinem Platz aus, auf der Terrasse… zuschauen, wie er sein Leben sichtlich genoss. Und auch jetzt sehe ich noch vor meinem inneren Auge, wie er leopardenähnlich durch den Garten streift, wie er sich in der Sonne räkelt und wie er am Abend abgekämpft aufs Bett springt.

Bei ihm habe ich beobachten können, wie man wirklich lebt: ohne Zaudern, ohne sorgenvolles Grübeln, einfach so, wie es die eigene Natur von einem verlangt. Ich glaube, für Timmy war es nicht schlimm zu sterben. Ich glaube, ich hätte es gespürt, an diesem Morgen, wenn es anders gewesen wäre. Nur wir Menschen haben Probleme mit dem Leben, nur wir Menschen fürchten den Tod und nur wir Menschen sterben mitunter schwer. Ich fuhr ruhig zur Arbeit. Etwas war anders an diesem Morgen. Noch wusste ich nicht, warum…

Timmy fehlt mir mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Die Trauer um ein Haustier ist anders, als die um einen Menschen. Beziehungen zu Menschen sind kompliziert, vielleicht ist daher das Loslassen oft so schwer. Ein Tier macht den Menschen, bei denen es lebt, auf einfache Weise ganz unglaubliche Geschenke. Völlig unkompliziert. Haustiere bringen uns ein Stück unserer wahren Natur zurück. Denn ein gesundes Tier lebt ganz im Einklang mit sich, so wie es für uns kaum jemals möglich sein wird. Manchmal habe ich Timmy dafür beneidet. Er fehlt mir und gleichzeitig bin ich dankbar, dass er mir so viel über das Leben und über den Tod beigebracht hat.

Veröffentlicht in:

Tiergeschichten

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

In toxischen Beziehungen wandelst du wie im Nebel. Ich unterstütze dich bei der Nebelklärung.

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