Die Selbstverformung des Kindes toxischer Eltern

Ein Kind, das von narzisstischen Eltern chronisch missbraucht wird, muss seine Persönlichkeit verformen, um unter dieser Belastung zu überleben. Dieser Prozess der Selbstverformung ist zugleich kreativ und destruktiv. Unter dem anhaltenden Druck des Missbrauchs entsteht das verformte Selbst.

Wiederholtes oder anhaltendes Trauma in der Kindheit formt und verformt die Persönlichkeit. Das missbrauchte Kind sieht sich einer fast unmöglichen Herausforderung gegenüber: Es muss Vertrauen in Menschen aufrechterhalten, die nicht vertrauenswürdig sind. Es muss in vollkommen unvorhersehbaren Situationen Sicherheit finden und in Situationen extremer Hilflosigkeit Macht erlangen.

Um trotz chronischem Missbrauch und Vernachlässigung die Hoffnung nicht zu verlieren, entwickelt das Kind außergewöhnlich kreative Fähigkeiten, wie anormale Bewusstseinszustände, das Auslöschen bestimmter Gedächtnisinhalte, eine nahezu übernatürliche Fähigkeit Warnsignale zu scannen, sowie das totale Einstimmen auf den Missbrauchstäter. Letzteres führt zu einer andauernden Alarmbereitschaft des kindlichen Zentralnervensystems.

Die Machtausübung in toxischen Familien ist willkürlich, launisch und absolut. Regeln sind unberechenbar, inkonsistent und unfair. Dies führt beim Kind zu einem Gefühl extremer Hilflosigkeit und letztendlich zu totaler Unterwerfung. In manchen toxischen Familiensystemen folgen Zwang und Unterdrückung hingegen rigiden Regeln. Da das Kind nicht entkommen kann, wird es seinen Willen in totale Konformität mit dem des Missbrauchstäters bringen.

Charakteristisch für diese Familiensystem ist die soziale Isolation. Das Kind erlebt täglich, dass der mächtigste und intimste Mensch in seinem Leben gefährlich ist und dass andere Erwachsene es nicht beschützen. Der kindliche Missbrauch bleibt unbemerkt. Selbst wenn das missbrauchte Kind ein soziales Leben entwickelt, ist es nicht authentisch. Das Kind kann im Grunde nur so tun, als könnte es dazugehören.

Das Kind muss einen Weg finden in einer hoffnungslosen Situation Hoffnung aufrechtzuerhalten. Deshalb muss es die naheliegendste Schlussfolgerung, dass mit den Eltern etwas nicht stimmt, verwerfen. Es befreit die Eltern damit von Schuld und Verantwortung. Als kreativer Schutzmechanismus wird der Missbrauch aus dem Bewusstsein gestrichen, als hätte er nie stattgefunden, oder wird minimalisiert, rationalisiert und entschuldigt, d.h. nicht als Missbrauch eingestuft. Das Kind will lieber glauben, dass es keinen Missbrauch gab. Es begräbt das Geheimnis in sich selbst.

Das Kind glaubt dadurch an sein eigenes Schlechtsein. Es fühlt sich verantwortlich für den Missbrauch. Es übernimmt das Böse des Täters und kann so eine Bindung aufrechterhalten.

Wenn es schlecht ist, können die Eltern gut sein. Wenn es schlecht ist, kann es versuchen gut zu sein. Missbrauchte Kinder werden im späteren Erwachsenenleben oft erfolgreich. So wird das missbrauchte Mädchen zur empathischen Pflegerin der toxischen Eltern, zur effizienten Hausfrau, zur akademischen Überfliegerin und ein Modell sozialer Konformität. Angetrieben vom Wunsch endlich elterliches Wohlwollen zu finden.

Das missbrauchte Kind entwickelt gleichzeitig ein extrem idealisiertes Bild seiner Eltern, was Narzissten gerne befeuern. Da das Bild der Eltern aber fragmentiert und widersprüchlich bleibt, kann es keine tröstliche innere Repräsentanz in sich entwickeln, die es in stressvollen Situationen beruhigen könnte.

Das missbrauchte Kind findet keine innere Sicherheit und bleibt daher abhängig von Quellen außerhalb von sich selbst. Es sucht beständig nach jemanden, von dem es abhängen kann.

Da der Missbrauch aus dem Geist verbannt wurde, spürt das heranwachsende Kind und der spätere Erwachsene körperliche Symptome, wie z.B. Schlafstörungen, Essstörungen, Magen-Darmbeschwerden und weitere Symptome.

Das Umfeld des missbrauchten Kindes bemerkt seine wechselnden Bewusstseinszustände, Erinnerungslücken oder anderen dissoziative Symptome nicht. Auch nicht sein negatives Selbstbild, da es durch das sozial konforme falsche Selbst verdeckt ist. Die psychosomatischen Symptome werden in keinen Zusammenhang mit ihrer Ursache gebracht und selbstzerstörerische Symptome (wie z.B. Essstörungen) bleiben verborgen.

Der in der Kindheit chronisch missbrauchte Mensch lebt in einem Zustand innerer Verwirrung, Übererregung, Leere und Einsamkeit, was zu ungesunden Verhaltensweisen führen kann, um diesen Zustand auszuhalten. Häufig sind Suchterkrankungen oder selbstschädigendes Verhalten die Folge.

Heilung bedeutet den Prozess der Selbstverformung rückgängig zu machen. Dazu muss die Realität des Missbrauchs anerkannt werden.

Quelle: Herman, J. L. (2022). Trauma and recovery: The aftermath of violence–from domestic abuse to political terror. Hachette uK.

Veröffentlicht in:

Narzissmus, Trauma

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

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