Das Wort „Vergebung“ scheint gerade Hochkonjunktur zu haben und das obwohl sich unsere Gesellschaft gleichzeitig immer weiter entfernt von religiösen Sicherheiten. Wenn bestimmte Worte gebetsmühlenartig wiederholt werden, sollte man kritisch hinschauen, denn das grenzt dann schon an Gehirnwäsche. Überall tummeln sich spirituelle Anbieter, Therapeuten oder Coaches, die versprechen: Wenn du nur vergibst, bist du frei von allen negativen Energien und somit geheilt.
Warum ist das so gefährlich? Weil es genau dem widerspricht, was Überlebende von Narzissmus eigentlich brauchen, um von ihrem Beziehungstrauma zu heilen.
Heilsversprechen und falscher Fokus verhindern Heilung
Um ein Beziehungstrauma zu heilen, ist es wichtig zu verstehen, dass es sich um einen herausfordernden inneren Prozess handelt, den man nicht abkürzen kann. Es ist entscheidend, in Kontakt mit sich selbst und dem eigenen verdrängten psychischen Schmerz zu kommen. Der Fokus liegt dabei auf der eigenen Person. Wenn ich davon überzeugt bin, durch Vergebung heilen zu können und nicht dadurch, dass ich all meine verwirrenden Gefühle spüre, umgehe ich diesen schmerzhaften, aber heilsamen Prozess. Ich spüre nicht, ich vergebe, und lege den Fokus auf den Menschen, der mir den Missbrauch angetan hat.
Durch Vergebung zurück in den toxischen Nebel
Ein entscheidender Aspekt von Heilung besteht darin, dass Überlebende von Narzissmus klar erkennen und verstehen, was ihnen angetan wurde. Durch Traumabindung, Blindheit für Verrat (vgl. Freyd, 1999) und Dissoziation war ihnen das oft über Jahrzehnte hinweg nicht möglich. Dies gilt insbesondere, wenn der Missbrauch schon in der Kindheit stattgefunden hat. Denn Kinder müssen sich für ihr seelisches Überleben vormachen, dass sie es mit guten Eltern zu tun haben. Die Erkenntnis über das Ausmaß des erlebten Missbrauchs ist für Überlebende häufig wie ein schockartiges Erwachen aus dem Schlaf. Da die Psyche sich vor zu viel Schmerz schützt, verschwindet die Klarheit immer wieder im toxischen Nebel und muss erneuert zurückgeholt werden. Nicht etwa, um sich selbst Schmerz zuzufügen, sondern um durch die Klarheit zu Selbstmitgefühl und Selbstrespekt zu finden und die Scham, die viele Überlebende begleitet den Menschen zurückzugeben, die für dem Missbrauch verantwortlich waren. Wenn man Überlebenden nun Vergebung statt Erkenntnis empfiehlt, ist das, als würde man ihnen eine Beruhigungspille verabreichen, die sie zurück in den toxischen Nebel bzw. Schlafzustand führt.
Durch Vergebung schon wieder Selbstverlust
Überlebende von toxischen Beziehungen haben in diesen immer wieder verziehen und andauernd zweite Chancen gegeben, weil die toxische Beziehungsdynamik so verwirrend ist und sie alles versucht haben, um irgendwie in der Beziehung Sicherheit zu finden. So haben sie das Missbrauchsverhalten ständig relativiert oder gerechtfertigt und sich sogar selbst die Schuld gegeben. Dies geschah zu einem hohen Preis, denn toxische Beziehungen gehen mit Selbstverlust einher. Heilung bedeutet, den Selbstverlust rückgängig zu machen, dem Missbrauch eine ganz klare Grenze zu setzen und die Verantwortung den Menschen zurückzugeben, die sie in Wirklichkeit tragen. Wenn der Fokus auf Vergebung liegt statt auf Abgrenzung und Verantwortungsrückgabe, können Überlebende ihr Selbst weder stärken noch vor weiterem Missbrauch schützen.
Auch sich selbst muss nicht vergeben werden
Toxische Beziehungen folgen einer ganz bestimmten Dynamik. Diese führt bei Überlebenden zu Traumabindung und Blindheit für Verrat. Es ist Teil dieser Dynamik, dass Überlebende nicht erkennen, was mit ihnen geschieht. Sie müssen sich daher nichts vergeben. Sie haben ihren Missbrauch weder verursacht noch verschuldet und leider auch nicht erkannt.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Empfehlung narzisstischen Missbrauch zu vergeben, toxisch ist. Menschen, die diesen Ansatz verfolgen, stützen und stärken die toxische Dynamik von Missbrauchsbeziehungen. Wenn es darum geht, dass Überlebende zu „innerem Frieden“ finden, dann ist dafür nicht Vergebung notwendig, sondern Heilung.
Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier nicht auf eine psychiatrische Diagnose oder Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil. Narzissmus ist keine Krankheit. Narzissten leiden nicht unter ihrem Persönlichkeitsstil. Sie sind jederzeit zurechnungsfähig und damit für ihr Handeln verantwortlich.




