Warum es keinen „gesunden Narzissmus“ gibt

Viele Experten in psychologischen oder psychiatrischen Fachkreisen gehen von einem „gesunden“ im Gegensatz zu einem „kranken“ Narzissmus aus. Meines Erachtens zeigt diese Annahme in erster Linie, dass diese Experten den Persönlichkeitsstil Narzissmus nicht vollständig erfasst haben. Voraussichtlich fehlt es ihnen an dem entscheidenden Erfahrungswissen, das Überlebende mitbringen, die beispielsweise Jahrzehnte mit einem Narzissten oder eine Narzisstin zusammengelebt haben.

Wer sich nur theoretisch mit Narzissmus beschäftigt, wird die charakteristischen Verhaltensweisen, die zu Narzissmus gehören, nicht verstehen. Er könnte mit Überlebenden sprechen, müsste dann aber sein Weltbild dahingehend korrigieren, dass in einer Beziehung nicht immer beide Seiten verantwortlich sind. Er kann nicht davon ausgehen, dass Narzissten in seine Praxis kommen, um mit ihm an sich zu arbeiten. Narzissten sind dazu nicht bereit. Wenn sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, werden sie auch dort eine Maske von sich präsentieren. Die meisten gehen entweder gar nicht erst in eine Psychotherapie oder brechen sie schnell wieder ab.

Schon Sigmund Freud (1856-1939) musste seine Theorie, die ursprünglich Symptome bei Frauen auf sexuellen Missbrauch in der Familie zurückführte, aufgrund gesellschaftlichen Drucks ändern. Da er es mit mächtigen und angesehenen Familien zu tun hatte, änderte er seine Theorie dahingehend, dass die betroffenen Frauen hysterisch seien und sich den Missbrauch einbilden oder sogar wünschen würden. Theoretische Annahmen dienen oft dazu, ein bestimmtes Weltbild aufrechtzuerhalten.

Aaron Antonovsky (1923-1994) hat mit der Salutogenese eine der wichtigsten Gesundheitstheorien entwickelt. Danach befinden wir uns alle auf einem Kontinuum und sind mehr oder weniger gesund / krank. Auf der einen Seite des Kontinuums befindet sich die Extremform der Krankheit – der Tod – und auf der anderen Seite die vollkommene Gesundheit, die niemand jemals erreicht. Antonovsky würde sicherlich nicht von „gesunder Krankheit“ sprechen, da Krankheit eben das Gegenteil von Gesundheit ist.

Deshalb macht es meiner Meinung nach keinen Sinn, von „gesundem Narzissmus“ zu sprechen, wie es einige Experten tun. Wir können es als „gesundes Selbst“ bezeichnen, weil dieses Selbst eben nicht die Eigenschaften und Verhaltensweisen zeigt, die Narzissten zeigen. Wenn wir davon ausgehen, dass ein „gesundes Selbst“ ähnlich tickt wie ein Narzisst, nur auf „gesunde Art“ vertreten wir meiner Ansicht nach ein sehr schräges Menschenbild.

Narzissmus (vgl. Dr. Ramani): 1. pathologische Selbstbezogenheit, 2. geringe, variable oder performative Empathie, 3. Berechtigungsdenken und Glaube an die eigene Grandiosität, 4. exzessives Bedürfnis nach Bewunderung und Anerkennung. Es braucht alle vier Aspekte, um von Narzissmus sprechen zu können.

Gesundes Selbst (vgl. Dr. Ramani): Selbstkenntnis, Selbstreflexion, wissen, was man gut kann und was nicht, mit dem eigenen authentischen Selbst verbunden sein, für sich selbst einstehen können.

Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier nicht auf eine psychiatrische Diagnose oder Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil. Narzissmus ist keine Krankheit. Narzissten leiden nicht unter ihrem Persönlichkeitsstil. Sie sind jederzeit zurechnungsfähig und damit für ihr Handeln verantwortlich.

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Narzissmus

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

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