Vernachlässigung: Eine Kindheit als Geist

Wie beschreibt man etwas, das nicht stattgefunden hat? Wie beschreibt man das Nichts? Wie kann man sich an seine Kindheit erinnern, wenn es nichts zu erinnern gibt? Wie kann man sich erinnern und einordnen, was nicht stattgefunden hat, aber hätte stattfinden müssen?

Wie lebt es sich, wenn man als Geist aufgewachsen ist?

Manche Menschen sind während ihrer gesamten Kindheit unsichtbar. Sie haben niemanden, der sie sieht, hört, mit ihnen fühlt oder an den sie sich wenden können. Sie haben niemanden, der ihnen konstant Aufmerksamkeit schenkt oder sie anregt. Niemand spiegelt diese Kinder.

Es ist das unsichtbare Trauma. Der unsichtbare Missbrauch, der sich nicht in Worte fassen lässt.

Es ist der Schmerz als Kind nicht existiert zu haben. Einfach ausgelöscht.

„Geistkinder“ überleben bodenlose Einsamkeit und extreme Hilflosigkeit. Ein tiefsitzendes Gefühl grenzenloser Leere.

Diese Menschen können sich später oft nicht mehr an ihre Kindheit erinnern und glauben, wenn sie sich nicht intensiv mit ihrem Trauma auseinandersetzen, dass es für sie gar nicht so schlimm war. Schließlich hatten sie immer ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und ausreichende Schulbildung. Sie wurden nicht geschlagen wie andere Kinder. Viele „Geistkinder“ hätten sich nichts sehnlicher gewünscht, denn das hätte bedeutet, dass sie existieren und dass ihre Bezugspersonen auf sie reagieren. Gewalt ist nicht so schlimm wie seelische Auslöschung.

Vielleicht erinnern sie sich an außergewöhnliche Momente, die nicht hätten außergewöhnlich sein dürfen. Zum Beispiel die Zuwendung und das Mitgefühl eines Fremden oder die zärtliche Geste einer entfernten Bekannten. Wenn sie sich nur an diese Momente erinnern, können sie sicher sein, dass es nur diese Momente gab.

In der Psychotherapie erzählen Menschen, was ihnen widerfahren ist, um das Schlimme zu verarbeiten. Ehemalige „Geistkinder“ können das nicht, weil das Nichts nicht beschrieben werden kann. Es kann nur durch einen imaginierten Kontrast zum Leben erweckt werden. Mit Sätzen wie: „Meine Mutter hat nie mit mir gespielt und nie mit mir gelacht…“. So bleibt das Erlebte immer irgendwie abstrakt, nicht greifbar, weil nicht existent. Erinnerungen gleichen leeren Räumen ohne Menschen, nur mit Möbeln oder einem Albtraum, in dem das Kind auf die Straße läuft und die Menschheit ausgestorben ist.

Später ist für diese Menschen nichts schmerzhafter als keine Reaktion auszulösen, nicht gesehen zu werden und keine Antwort zu erhalten… schon wieder dieses unerträgliche Gefühl der Auslöschung. Vielleicht finden sich daher viele von ihnen in Gewaltbeziehungen wieder. Gewalt ist angenehmer als seelische Auslöschung.

Die Heilung einer Geistkindheit folgt anderen Gesetzen als die Heilung einer Gewaltkindheit. Letztere kann eingeordnet werden. Erstere muss erst sichtbar gemacht, sozusagen geboren werden, um bearbeitet werden zu können.

Nichts ist schmerzhafter als für andere Menschen nicht existiert zu haben. Die Heilung besteht darin sich in die eigene Existenz zurückzukämpfen.

Bild von debowscyfoto auf Pixabay

Veröffentlicht in:

Psychologie, Trauma

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

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