Narzissmus: Oh, nein… bin ich im „Opferbewusstsein“?!

Das Wort „Opferbewusstsein“ hat mich ein bisschen getriggert. Ich weiß gerade nicht mehr, wo das war… vielleicht in einem Kommentar unter meinen YouTube-Videos oder bei einer esoterischen Heilsversprecherin auf Social Media. Jedenfalls möchte ich dieser unglücklichen Wortschöpfung auf den Grund gehen, um besser zu verstehen, was damit gemeint ist, warum mich das Wort triggert und ob man dem Begriff vielleicht doch etwas abgewinnen kann.

Ich spreche beim Thema Narzissmus nie von „Opfern von Narzissmus“ oder „Opfern toxischer Beziehungen“, sondern von Überlebenden. Im Englischen klingt das mit „survivor“ noch etwas besser. Deutsch ist, wie es ist. Durch das Wort „Überlebende“ wird deutlich, dass der Missbrauch, den Menschen in toxischen Beziehungen erfahren, lebensgefährlich ist. Gleichzeitig wird klar, dass diese Menschen aufgrund ihrer Stärke und Resilienz überlebt haben.

Meine Gedanken zum Begriff „Opferbewusstein“ im Zusammenhang mit Narzissmus:

„Bewusstsein“ über den eigenen Missbrauch ist wichtig und gut. Die meisten Überlebenden wandeln in toxischen Beziehungen im Nebel. Sie sehen und verstehen nicht, dass sie es mit Missbrauch zu tun haben. Daher ist der erste Schritt zur inneren und möglicherweise auch äußeren Befreiung das Wissen, womit man es zu tun hat. Man könnte das Wort „Opferbewusstsein“ also im Grunde positiv sehen. Aber…

Der Begriff transportiert ein ganz bestimmtes Framing, nämlich dass Menschen sich gerne in der Rolle des Opfers sehen und ihre Verantwortung abgeben wollen. Im Grunde wird ihnen vorgeworfen, dass es ihnen schlecht geht. Der Missbrauchstäter oder die Missbrauchstäterin wird dabei nicht angeklagt. Der Missbrauch wird hingenommen, akzeptiert oder sogar geleugnet. Als wäre die Tatsache, dass sich jemand schlecht fühlt, aus heiterem Himmel gekommen.

Trauma erzeugt im Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit und des Ausgeliefertseins. Auch wenn die traumatischen Ereignisse (z.B. in der Kindheit oder in einer späteren toxischen Beziehung) längst vorbei sind. Menschen stecken sozusagen in ihrem Trauma fest, weil ihr Nervensystem durch Extremerfahrungen nicht zurück in Balance finden kann. Es bleibt im Extrem stecken. Deshalb fühlen sich diese Menschen schlecht. Häufig wissen sie das nicht einmal, weil sie es nicht mehr anders kennen. Das schlechte Gefühl wird zur eigenen Identität. Erst wenn sie auch wieder Sicherheit und Stabilität in sich spüren können, nehmen sie den Unterschied wahr.

Man könnte also sagen, diese Menschen stecken im „Opferbewusstsein“ fest. Ich würde sagen, sie stecken in einer traumatisierten Version von sich selbst fest. Da kommen sie auch nicht so einfach raus. Denn Trauma heilt nicht von allein.

Richtig ist, dass diese Menschen aus einer hilflosen Version von sich selbst herausfinden und zu einer gestärkten Version von sich selbst finden müssten, wenn es ihnen besser gehen soll. Dafür müssen sie selbst etwas tun. Manchmal geben glückliche Umstände den Anstoß, zum Beispiel eine liebevolle und unterstützende Beziehung. Aber auch dann ist die Heilung eines Traumas eine echte Herausforderung. Niemand hat gewählt in „erlernter Hilflosigkeit“ (Seligman, 1979) festzustecken. Niemand hat sich Veränderungen in der Struktur des eigenen Gehirns und der Funktionsweise des eigenen Nervensystems ausgesucht.

Das Wort „Opferbewusstsein“ ist daher in meinen Augen eine Wortschöpfung des „Victim blamings“. Das einzige, was ich ihm abgewinnen kann, ist, dass traumatisierte Menschen aus dem erlebten Gefühl der Schwäche, Hilflosigkeit oder des Ausgeliefertseins herauskommen müssen.

Literaturempfehlung: Van der Kolk, B. (2023). Das Trauma in dir: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können| Der Bestseller“ Verkörperter Schrecken“ jetzt als Taschenbuch. Ullstein Buchverlage.

Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier nicht auf eine psychiatrische Diagnose oder Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil. Narzissmus ist keine Krankheit. Narzissten leiden nicht unter ihrem Persönlichkeitsstil. Sie sind jederzeit zurechnungsfähig und damit für ihr Handeln verantwortlich.

Bild von Khusen Rustamov auf Pixabay.

Veröffentlicht in:

Narzissmus, Psychologie, Trauma

Über die Autorin

Julia Krawitz

Als Psychologin (Master of Science) unterstütze ich dich toxische Beziehungen in deinem Leben zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und dich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

In toxischen Beziehungen wandelst du wie im Nebel. Ich unterstütze dich bei der Nebelklärung.

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