Psychiatrische Diagnosen zu „Persönlichkeitsstörungen“ sind irreführend. Man kann sie nicht mit „echten“ Krankheitsdiagnosen vergleichen, beispielsweise wenn Onkologen im MRT einen Tumor ausfindig machen. Leider passiert aber genau das unter Laien. Sie setzen meist eine psychiatrische Diagnose mit einer echten Krankheitsdiagnose gleich.
Um diese Gleichsetzung kritisch beurteilen zu können, muss man verstehen, wie psychiatrische Diagnosen entstehen.
Psychiatrische Diagnosen sind Hilfskonstrukte, um Menschen mit ähnlichen Problemen und Schwierigkeiten in Kategorien einteilen zu können. Diese Kategorien dienen den Experten dann dazu, für die betroffenen Patienten geeignete Behandlungsmethoden zu entwickeln, Medikamente zu verschreiben und ärztliche oder psychotherapeutische Leistungen abzurechnen.
Die Diagnosen werden alle paar Jahre überarbeitet und angepasst. Sie werden im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) bzw. in der deutschen Version DSM festgehalten. Manche Diagnosen werden dann auch wieder gestrichen, wie zuletzt die narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Diagnosen über Persönlichkeitsstörungen entstehen, indem Experten bestimmte menschliche Verhaltensweisen zusammenstellen und dann entscheiden, dass die jeweilige Diagnose gegeben ist, wenn eine bestimmte Anzahl der zusammengestellten Verhaltensweisen beim Patienten auftritt. Werden bei der Überarbeitung des DSM mehr Verhaltensweisen zu einer Diagnose hinzugefügt, fallen dann auch mehr Menschen in die entsprechende Kategorie. Außerdem überschneiden sich die Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen und sind nicht trennscharf, so dass es nicht selten vorkommt, dass eine Person mehrere Diagnosen erhält oder von verschiedenen Experten unterschiedlich diagnostiziert wird.
Hinzu kommt, dass es keine wirkliche Trennung zwischen einer normalen und einer gestörten Persönlichkeit gibt. Alles, was Menschen mit einer sogenannten Persönlichkeitsstörung an Verhalten und Erleben zeigen, ist normales menschliches Verhalten und Erleben. Ab einer bestimmten Stärke der Ausprägung entsteht ein Hilfebedarf bzw. ist das Leben der Person nicht mehr zu bewältigen. Man sollte also eher in einem Kontinuum denken.
Bei Narzissmus kommt noch die Problematik hinzu, dass nicht so sehr der Narzisst unter seinem Narzissmus leidet, sondern das soziale Umfeld. Und Narzissten sind veränderungsresistent, was nicht für alle „Persönlichkeitsstörungen“ gilt, und sie haben kein Problembewusstsein. Sie reflektieren sich selbst nicht kritisch.
Man sollte bei Narzissmus daher nicht mehr von einer Persönlichkeitsstörung, sondern von einem Persönlichkeitsstil sprechen. Auch dieser Persönlichkeitsstil ist wiederum auf einem Kontinuum zu sehen.
Für Überlebende toxischer Beziehungen ist es hilfreich, einen Begriff für das zu haben, was sie mit einem Menschen erlebt haben, und zu verstehen, dass sie selbst nicht das Problem sind und dass sie mit ihrer Erfahrung nicht allein sind. Anstelle von Narzissmus zu sprechen, könnte man auch sagen, der Mensch ist egozentrisch, unempathisch, machtbesessen, manipulativ und ausbeuterisch.
Ein Mensch wird nicht zum Problem, weil er Probleme hat, sondern weil er keine Verantwortung für seine Probleme übernimmt und sich selbst nicht in Frage stellt.
Quelle _15.11.24: https://www.deutschlandfunk.de/psychiatrie-diagnosen-icd-100.html
Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier ausdrücklich nicht auf eine psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil.