Kaum jemand kann sich vorstellen, in welcher Hölle Kinder in einer Borderline-Familie[1] leben. Eine Borderline-Familie ist eine Familie, in der ein oder beide Elternteile eine Borderline-Persönlichkeitsstörung haben. Von außen ist der Wahnsinn, der in diesen Familien herrscht, meist nicht erkennbar. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind perfekte Schauspieler, wenn es darauf ankommt. Sie schlüpfen von einer Rolle in die andere. Nur sie selbst, das sind sie nie.
Die Kinder in Borderline-Familien leiden meist still, denn sie erleben emotionalen Missbrauch. Diesen sieht und hört man nicht. In manchen dieser Familien kommt es auch zu anderen Gewaltexzessen. Dramen sind an der Tagesordnung.
In Borderline-Familien gibt es keine Regeln, keine Sicherheit. Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit sind das Einzige, worauf sich diese Kinder verlassen können. Die Rollen der Kinder in Borderline-Familien werden bereits vor der Geburt festgelegt. Eltern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung bekommen Kinder, damit diese für sie da sind. Nicht umgekehrt.
Mütter oder Väter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fühlen sich für ihre Kinder ein wenig an wie Geister, denn sie sind nicht wirklich vorhanden. Es fehlt ihnen ein verlässlicher Wesenskern. Ihre innere Leere, Zerrissenheit und Dunkelheit breitet sich wie Blei in den Seelen ihrer Kinder aus.
Die Regeln für ihre Kinder:
Du hast kein Recht auf eine eigene Existenz. Deshalb hast du kein Recht darauf ein Kind zu sein, Wünsche zu haben und schon gar nicht Autonomie zu entwickeln. Autonomie ist streng verboten und wage es ja nicht dich von mir zu unterscheiden. Du bist dafür da mich positiv zu spiegeln, damit es mir besser geht. Da dir das nicht gelingen kann, bist du falsch. Du erfüllst deine Rolle nicht, also bist du wertlos.
Häufig gibt es in diesen Familien ein „schwarzes“ und ein „weißes“ Kind. Das „schwarze Kind“ wird zur Projektionsfläche aller abgelehnten Anteile der Eltern und ihres gesammelten Selbsthasses. Das „weiße Kind“ erhält die Rolle des Retters oder der Retterin. Während das erste Kind auffällige Probleme zeigt und nicht selten drogensüchtig, promiskuitiv und suizidal wird, muss sich das andere Kind völlig von sich selbst abspalten und die Verantwortung für den seelischen Zustand der ganzen Familie auf seine Schultern laden. Es lernt nur noch, sich am Außen – an den ständigen Stimmungsschwankungen der Eltern – zu orientieren und diese abzufangen. Dabei löst es sich selbst in der toxischen Verschmelzung mit ihnen auf.
Die Kinder in diesen Familien bekommen nichts von dem, was Kinder in ausreichend guten Familien bekommen. Sie wachsen völlig führungslos auf, ohne Regeln oder mit geheimnisvollen Regeln, die sich ständig ändern können. Außerdem müssen sie sich um Eltern kümmern, die sich wie Kleinkinder verhalten, die völlig außer Rand und Band sind.
Diese Kinder haben nichts und niemanden, an den sie sich mit ihrem Schmerz wenden können, denn eine unumstößliche Regel dieser toxischen Familien ist, dass die Fassade nach außen hin perfekt ist. Und wage es ja nicht, sie anzutasten. Meist spüren diese Kinder ihren Schmerz auch gar nicht, weil sie in ihrer Gefühlswelt noch nie gesehen, anerkannt oder unterstützt wurden. Die meiste Zeit sind sie darauf konzentriert, ihre Eltern zu lesen, Katastrophen vorauszusehen und die ihnen zugedachte Rolle so gut wie möglich zu erfüllen.
Kinder von Eltern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung werden zu zutiefst verunsicherten Erwachsenen, die weder sich selbst noch anderen oder der Welt trauen.
Der negative Einfluss dieser Familien bleibt oft bis ins Erwachsenenalter bestehen. Bis diese erwachsenen Kinder sich aus dem toxischen Nebel ihres Familiensystems befreien, klar sehen, was ihnen angetan wurde und sich in einem monumentalen Kraftakt von den Fesseln der Eltern befreien. Einige Kinder aus diesen Familien sehen als einzige Möglichkeit, sich zu befreien, den Selbstmord.
Literatur: Rösel, M. (2019). Mit zerbrochenen Flügeln: Kinder in Borderline-Beziehungen. Starks-Sture-Verlag.
[1] Narzissmus und Borderline-Persönlichkeitsstörung sind nicht leicht voneinander abzugrenzen, da es Gemeinsamkeiten gibt. Bei Borderlinern kommen zu Berechtigungsdenken, Selbstzentriertheit und Arroganz eine tiefgreifende Identitätsproblematik und panische Verlassenheitsängste hinzu. Borderliner sind zerbrechlicher, chaotischer und impulsiver als Narzissten. Manchmal sind sie empathischer als Narzissten, aber meist nur dann, wenn es ihren Interessen dient.