Wenn ich eine Wunderpille hätte, würde ich sie gegen Mitgefühl einsetzen und sie den Überlebenden toxischer Beziehungen verabreichen.
Wenn sich Menschen im toxischen Nebel einer Beziehung mit einem Narzissten oder einer Narzisstin befinden, zeigen sie eine seltsame Form von Mitgefühl.
Die Überlebenden haben es in diesen Beziehungen mit gewalttätigen Menschen zu tun (immer emotionale Gewalt, oft verbale Gewalt und nicht selten auch körperliche Gewalt). Die Menschen, von denen hier die Rede ist, schwanken zwischen scheinbarer Zärtlichkeit und eisiger Kälte.
Überlebende beschreiben diese Menschen oft als liebenswert, lustig und charmant und im nächsten Moment als kalt, distanziert und brutal. Die Überlebenden haben offensichtlich Angst vor ihnen und trauen ihnen schreckliche Dinge zu.
Aber diese Angst ist dissoziiert, weil die berechtigte Sorge um sich selbst völlig verloren gegangen ist.
Aber was passiert genau?
Anstatt die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen, was durchaus angebracht und eine normale Reaktion auf Gefahr wäre (nicht immer leicht zu realisieren), geschieht etwas Seltsames.
Die Überlebenden haben Mitgefühl. Ich sage es hier ganz deutlich: Dieses Mitgefühl kann, je nach Ausprägung des Narzissmus, tödlich sein und geht in jedem Fall auf Kosten der eigenen Gesundheit.
Das Mitgefühl entsteht, weil das toxische Verhalten des Partners oder der Partnerin falsch erklärt wird. Oft wird es mit Überforderung, Verletzlichkeit oder Kindheitstraumata erklärt. Da kommt dieses seltsame Mitgefühl. Die Überlebenden verhalten sich, als hätten sie es mit einem Dreijährigen zu tun, der in seiner Trotzphase einen Wutanfall hat. Das ist nicht der Fall.
Das toxische Verhalten findet statt, weil Narzissten sich absolut berechtigt fühlen, sich so zu verhalten. Sie sind in diesen Momenten auch nicht überfordert oder anderweitig extrem belastet. Sie bekommen einfach nicht genug narzisstische Zufuhr und brauchen die Abfuhr ihrer narzisstischen Wut. In anderen Momenten, in denen sie gut dastehen wollen, haben sie sich völlig unter Kontrolle. Du bist ihnen egal. Viele Narzissten sagen das auch ganz deutlich: Du bist mir egal.
Mitgefühl ist Teil der Traumabindung toxischer Beziehungen
Unangemessenes oder übertriebenes Mitgefühl ist eine Traumareaktion. Kinder brauchen Bindung, um zu überleben, und sie müssen glauben, dass Mutter oder Vater doch gut sind. Nur so können sie in dysfunktionalen Familien überleben. Mitgefühl ist also eine sinnvolle Überlebensstrategie. Das Problem: Es setzt sich später fort mit dem toxischen Partner, dem toxischen Chef etc.
Mitgefühl ist ein bewusster Vorgang. Davon zu unterscheiden ist das „Fawning“*. Fawning ist eine automatische, d.h. unbewusste Traumareaktion. Menschen unterwerfen sich, um Sicherheit zu finden und die Bindung aufrechtzuerhalten. Sie sind dabei leicht dissoziiert. Oft wundern sie sich später über ihr unterwürfiges Verhalten (vgl. Dr. Ramani).
Je sicherer die Beziehung ist, desto weniger wird diese erlernte Traumareaktion ausgelöst.
Mitgefühl hingegen ist eine bewusste und aktive Reaktion, die auf höheren kognitiven Prozessen beruht.
Mitgefühl lässt Menschen in toxischen Beziehungen seelisch ausbluten. Denn sie bekommen von ihrem narzisstischen Partner nichts zurück.
Für hochsensible Menschen (ca. 20% der Bevölkerung und gleich verteilt zwischen den Geschlechtern) sind toxische Beziehungen daher eine Katastrophe (vgl. Dr. Ramani). Vielleicht haben diese Menschen mehr Spiegelneuronen, jedenfalls springt ihr Mitgefühl extrem leicht an. Sie müssen sich also regelrecht davor schützen.
Take Home Message: Mitgefühl für Narzissten, die dir schreckliche Dinge angetan haben (z.B. Eltern, die dir deine Kindheit geraubt haben, Partner, die dein Leben zerstört haben) schadet dir, lässt dich seelisch ausbluten und hält dich im toxischen Nebel.
*Fight, Flight, Freeze, and Fawn sind automatische Reaktionen des sympathischen Nervensystems auf extreme Gefahr. Bei traumatisierten Menschen werden diese Reaktionen durch sogenannte Trigger ausgelöst.
Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier ausdrücklich nicht auf eine psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil.