Der Begriff „Narzissmus“ wird in unserer Gesellschaft – wie viele andere Begriffe hinter denen wichtige Dinge stehen – inflationär und unscharf verwendet. Damit wird er der Möglichkeit beraubt echte Klarheit zu schaffen über das, was „Narzissmus“ bezeichnet. Wenn auf einmal alles Narzissmus ist, ist nichts mehr wirklich bedeutend an Narzissmus. Beispielsweise ist nicht jeder Ex, der sich wie ein Arschloch verhält, gleich ein Narzisst. Im Folgenden beschreibe ich vier Mythen, die häufig über Narzissmus verbreitet werden [1].
Narzissten sind immer männlich
Der sogenannte „grandiose Narzissmus“ kommt unter Männern häufiger vor, aber Narzissmus gibt es bei allen Geschlechtern. Einige Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Eigenschaften der narzisstischen Persönlichkeit stark dem Geschlechtsrollenstereotyp von Männern in unserer Kultur ähneln, einschließlich Wutausbrüche, starkem Bedürfnis nach Macht und autoritärem Führungsstil.
Der „vulnerable Narzissmus“, der wie die depressive Variante des grandiosen Narzissmus wirkt, kommt bei Männern und Frauen gleichermaßen vor. Diese Menschen sehen sich andauernd als Opfer (selbst wenn sie mit ihrem Verhalten enorm viel Leid bei anderen Menschen verursachen), sind ängstlich, mürrisch, traurig, unsicher, nachtragend und wirken in sozialen Situationen manchmal seltsam.
Es geht nur um Arroganz und Angeberei
Alle Narzissten sind arrogant und angeberisch, aber Arroganz und Angeberei machen einen Menschen noch nicht zu einem Narzissten. Narzissten glauben nicht nur sie seien besser als andere Menschen, sie haben auch das Bedürfnis andere Menschen abzuwerten, klein zu halten und zu manipulieren. Sie tun dies durch Verachtung, zersetzende Kritik und Verwirrung (mit Manipulation und Gaslighting). Arroganz ist unangenehm, aber Narzissmus ist toxisch.
Narzissten können ihr Verhalten nicht kontrollieren
Wer schon einmal mit einem Narzissten auf einer Party oder einem ähnlichen öffentlichen Event war, weiß wie charismatisch, charmant und ausgeglichen sie in diesem Kontext auftreten. Ihrer Partnerin oder ihrem Partner gegenüber sind sie dann plötzlich die zärtlichsten Menschen. Kaum zuhause behandeln sie denselben Menschen entweder wie ein wertloses Möbelstück oder lassen ihre rasende Wut, die sie vorher streng kontrolliert haben, an ihm aus.
Narzisstische Vorgesetzte können ihren Mitarbeitern gegenüber extrem fürsorglich sein, wenn ein Mensch des gleichen oder eines höheren Status im Raum ist. Alleine mit ihnen werden sie wieder zu tyrannischen Herrschern, die eine Mücke außer Rand und Band versetzen kann.
Narzissten können sich verändern
Dieser Irrglaube lässt sich einfach außer Kraft setzen, wenn man versteht, dass Narzissmus keine Krankheit ist, die man einfach nur behandeln muss. Narzissmus ist ein Persönlichkeitsstil mit bestimmten Eigenschaften wie mangelnde Empathie, Selbstzentriertheit und Berechtigungsdenken. Diese Eigenschaften bringen Narzissten durchaus Vorteile.
Demgegenüber gibt es beispielsweise Menschen, die extrem verträglich sind. Sie sind empathisch, altruistisch, bescheiden, vertrauensvoll und halten sich an Regeln. Würde man von diesen Menschen erwarten ihre Empathie abzulegen und andere Menschen auszubeuten oder zu manipulieren, wäre das unmöglich für sie. Genauso unmöglich ist es für einen Narzissten nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen zu berücksichtigen. Es handelt sich um seine Persönlichkeit.
Narzissmus wird häufig auf Trauma in der Kindheit zurückgeführt und viele Narzissten haben tatsächlich traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht. Es gibt aber auch Narzissten, bei denen das nicht der Fall ist und die meisten Menschen mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit werden nicht zu Narzissten.
[1] Die vier Mythen stammen von Dr. Ramani aus folgendem Buch: Durvasula, R. (2024). It’s Not You: How to Identify and Heal from NARCISSISTIC People. Random House.
Hinweis: Narzissmus bezieht sich hier ausdrücklich nicht auf eine psychiatrische Diagnose bzw. Persönlichkeitsstörung, sondern auf Narzissmus als Persönlichkeitsstil.